Digitale Ausstellung
„Man ist nur so lange fremd,
bis man sich kennt“
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Griechische Arbeitsmigration in Deutschland – Ein Interview
Vor wenigen Tagen ist ein transnationales deutsch-griechisches / griechisch-deutsches Migrations-Projekt mit Ausstellung zu Ende gegangen. Die Ausstellung, die im Stadtarchiv in Wiesbaden stattfand, stand unter dem Titel:„Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt“. GRIECHENLAND AKTUELL sprach mit der Kuratorin Maike Wöhler, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Projektkoordinatorin und dem Sozialwissenschaftler, Politologen und Kurator Christos Mantzios über diese deutsch-griechische / griechisch-deutsche Ausstellung, über die griechischen Migrantinnen und Migranten, über den Prozess der Integration und über das Besondere an der Integration der nach Deutschland zugewanderten Menschen aus Griechenland….
Zum Interview
Grußwort des Kulturdezernenten Axel Imholz anlässlich der Ausstellungseröffnung
„Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt“ – Griechische Arbeitsmigration in Wiesbaden“ (7. September 2021) im Stadtarchiv Wiesbaden.
Sehr herzlich begrüße ich Sie in den Räumen des Stadtarchivs Wiesbaden und freue mich, dass wir heute Abend die Ausstellung „Man ist so lange fremd, bis man sich kennt: Griechische Arbeitsmigration in Wiesbaden im 20. Jahrhundert“ eröffnen können.
Ich bedanke mich bei Herrn Quadflieg diese Ausstellung hier vor Ort präsentieren zu können, ebenso gilt mein Dank den Förderern – unter Anderem „Demokratie Leben! Wiesbaden“ – Frau Reiter und Herrn Rath und den Menschen, die dieses Projekt mit Leben gefüllt haben – Frau Maike Wöhler, Herrn Christos Mantzios, die diese Ausstellung kuratiert haben und den zahlreichen Menschen, die bereit waren ihre persönlichen Migrationsgeschichten, Bilder und Gegenstände mit uns allen zu teilen.
Digitale Kulturangebote in Pandemie-Zeiten anzubieten, war und ist wichtig. Es ist jedoch nach Zeiten langer Beschränkung auf digitale Vermittlungswege umso schöner, dass wir heute Fotos und Exponate wieder vor Ort in Augenschein nehmen können und dass der persönliche Austausch über Gesehenes und Gehörtes möglich ist.
Die Ausstellung „Man ist nur so lange fremd, wie man sich kennt“ wurde von der Kulturwissenschaftlerin Maike Wöhler und dem Politikwissenschaftler Christos Mantzios erarbeitet und konzeptioniert. Sie gibt einen tiefen Einblick sowohl in ein wichtiges Kapitel der westdeutschen Nachkriegsgeschichte als auch der Wiesbadener Stadtgeschichte. Wenngleich wir feststellen müssen, dass die jüngere Migrationsgeschichte Wiesbadens bisher wenig erforscht und aufgearbeitet ist. Umso mehr freut es mich, dass mit dieser Ausstellung ein erster wichtiger Impuls in diese Richtung erfolgt.
Den Kuratierenden der Ausstellung war es wichtig, ihr Projekt im Rahmen einer deutsch-griechischen Gemeinschaftsarbeit zu verwirklichen. Durch diesen partizipativen Ansatz setzt die Ausstellung auch ein gesellschaftliches Zeichen gegen Diskriminierung und antidemokratische Tendenzen.
Die Grundlage der Ausstellung bilden Interviews, die von den Ausstellungsmachenden mit Mitgliedern der griechisch-orthodoxen Gemeinde „Heiliger Georgios“ in Wiesbaden-Biebrich sowie weiteren Personen mit griechischem Migrationshintergrund geführt wurden. Diese Zeitzeugen sind vor allem sogenannte „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter der 1. Stunde“. Sie kamen ab Anfang der 1960er-Jahre nach Wiesbaden, um hier zu arbeiten.
Die Bundesrepublik Deutschland und Griechenland hatten im März 1960 ein sog. Anwerbeabkommen geschlossen. Die Bundesrepublik wollte mit diesem und ähnlichen ab 1955 u.a. mit Italien, Spanien, der Türkei und Marokko geschlossenen Verträgen in Zeiten des „Wirtschaftswunders“ dem Arbeitskräftemangel in der Industrie entgegenwirken. Für die griechische Seite
bedeutete das Anwerbeabkommen hingegen eine Möglichkeit, der Unterbeschäftigung in der eigenen Wirtschaft entgegenzusteuern – auch, um soziales Konfliktpotential im eigenen Land einzudämmen.
Im Gegensatz zu vergleichbaren Abkommen war der mit Griechenland geschlossene Vertrag in Hinblick auf den Aufenthalt der sogenannten „GastarbeiterInnen“ nicht zeitlich beschränkt. Griechische Staatsangehörige durften sich zeitlich unbefristet in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, sofern sie einen Arbeitsplatz nachweisen konnten. In Wiesbaden waren es vor allem die großen Industriebetriebe in Biebrich, die die ersten griechischen Arbeitskräfte anwarben und wo sich der räumliche Schwerpunkt der griechischen Community bildete.
In den Zeitzeugengesprächen ging es unter anderem um das Arbeits- und Alltagsleben, um kulturelle Identität und den Prozess der beruflichen Integration.
Viele der Interviewten beschrieben ihre Einwanderungserfahrung als Zwiespalt, als Zerrissenheit zwischen dem Ankommen in der Fremde und der Erinnerung an die frühere Heimat. Und es darf nicht vergessen werden, dass je länger der Aufenthalt in Wiesbaden andauerte, umso mehr die Migrantinnen und Migranten auch zu „Fremden“ in ihrer alten Heimat Griechenland wurden, wo sie als „Germanolos“ („Deutschländer“) bezeichnet wurden.
So bleibt die griechische Einwanderungsgeschichte nach Deutschland eine Geschichte zahlreicher Erfolge und verwirklichter Träume, aber auch eine Geschichte der Brüche, der Probleme und manchmal auch des Scheiterns. Insbesondere die prekären Unterbringungs- und Lebensbedingungen der ersten griechischen Arbeitsmigranten in Wiesbaden zeigt die Ausstellung eindringlich. Ökonomischer Wohlstandsgewinn und soziale Integration entwickelten sich in dieser Gruppe nur langsam. Doch nach und nach entstanden die griechisch-orthodoxe Gemeinde, griechische Sport- und Kulturvereine oder vereinsähnliche Organisationen der griechischen Diaspora auch in Wiesbaden und bereicherten das kulturelle Stadtleben.
Dieser Vielschichtigkeit des Migrationsprozesses versucht sich die Ausstellung mit verschiedenen Perspektiven zu nähern. Persönliche Geschichten über das Weggehen, das Zurücklassen der alten Heimat und über den Prozess des „Ankommens und Bleibens“ sind anschaulich dokumentiert. Im Vordergrund der Ausstellung stehen historische Fotografien, die mit Texten und Interviewauszügen ergänzt wurden.
Nach dem sogenannten Anwerbestopp 1973 und als sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland im Laufe der 1970er Jahre verschlechterte, verließ der Großteil der insgesamt 615.400 griechischen „Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen“ die Bundesrepublik wieder. Diejenigen, die in Wiesbaden blieben, ließen sich hingegen dauerhaft hier nieder und gründeten Familien.
Seit dem Jahr 2010 nahm im Zuge der Wirtschaftskrise in Südeuropa die Zahl der Einwanderungen aus Griechenland nach Deutschland wieder deutlich zu. Heute leben rund 2.900 griechische Staatsangehörige in Wiesbaden, nicht mitgezählt diejenigen Personen, die zwar griechische Wurzeln haben, aber vor der Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts bei Erwerb der deutschen die
griechische Staatsbürgerschaft abgeben mussten. Als Personen mit griechischem Migrationshintergrund werden rund 3.600 Menschen in Wiesbaden gezählt, oder anders ausgedrückt, mehr als jeder hundertste Wiesbadener hat seine familiären Wurzeln in Griechenland. Damit leben in unsere Stadt etwa doppelt so viele griechisch stämmige Menschen wie im Bundesdurchschnitt.
Die Geschichte dieser Menschen und ihrer Familien, ihre Erfahrungen, ihr Beitrag zum Wohlstand dieser Stadt, aber auch ihre Probleme und Nöte, die gleichzeitig den Umgang der Wiesbadener Mehrheitsgesellschaft mit einer exemplarischen Migrantencommunity herausstellt, können Sie in der Ausstellung entdecken. Ich wünsche mir, dass dieser ersten noch viele weitere Perspektiven auf ein bisher wenig beachtetes Kapitel unserer Stadtgeschichte folgen werden.
Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wünsche ich einen anregenden und interessanten Abend und übergebe das Wort an Frau Wöhler die uns inhaltlich in die Ausstellung einführen wird. Ihnen und Herrn Mantzios gilt mein großer Dank – durch Ihre Arbeit wird die griechische Migrationsgeschichte für uns Wiesbadener sichtbarer und gibt Einblicke in eine Welt, die sicherlich für Viele neu zu entdecken ist.
Vielen Dank.
Vom Arbeiten
und Ankommen
Seit dem ersten Anwerbeabkommen im Jahr 1955 bis zum Regierungswechsel in Deutschland im Jahr 1998 verstand sich Deutschland nicht als Einwanderungsland – sowohl von Seiten der Politik und somit auch vieler Bürger*innen. Man betrachtete die „Gastarbeiter“ als Zuwanderer auf Zeit.
Arbeiten bei Kalle & Co.
„Ich kann mich noch gut daran erinnern“ Ich war der einzige nicht-deutsche Handwerker im Betrieb. Es waren über 150 Handwerker und ich war der ‚Nicht-Deutsche’. Aber trotzdem: ich wurde gut aufgenommen und hatte eigentlich keine Probleme. (…) Ich war einer der jüngsten Vorarbeiter in der Werkstatt und habe sogar den Meister vertreten, was nicht selbstverständlich war! Für die damalige Zeit war das nicht einfach. Damals musste man besser sein als ein Deutscher!“
Der junge Grieche Athanasi T.
Immerhin 18 Griechen und 185 Italiener trafen im Sommer des Jahres 1960 auf ihre ersten Kalle-Kollegen, den „Kalleanern“. Auch für die Deutschen war das erste Aufeinandertreffen mit den „Neuen“ und „Fremden“ ungewohnt – sie begegneten zum Mal „Nicht-Deutschen“, den ersten „Gastarbeitern“.
Arbeit und Leben
„Wir waren arm und wir kannten nichts anderes, außer das zu machen und dem zu folgen, was gut für uns und unsere Familie war. So wanderten wir aus, um Arbeit zu finden. Das gehörte zu unserem Leben.“
Niko T.
„Wir hatten in Amöneburg in der Dyckerhoffstraße eine Werkswohnung in den 1960ern in den Baracken, für Spanier, Griechen und Portugiesen. Für diese Zeit war es okay dort zu wohnen. Aber, wie soll ich sagen, ich sage nicht, es war asozial, es waren ja auch später Familien dort.
Wir hatten die Küche gemeinsam, das Waschbecken gemeinsam, also, Waschbecken hier und Waschbecken dort – es sah aus wie bei der Bundeswehr in den Baracken. Da mein Vater und ich ein 2-Bett-Zimmer hatten, hatten wir zum Glück eine eigene Toilette. Die Anderen nicht. Damals waren dort anfangs nur Männer, aber mit einem Kind ging das nicht dort zu wohnen. Da war ein Saal mit 6–10 Männern. Gastarbeiter. Aber nicht diese – wie soll ich sagen – dreckigen. Wir haben geguckt, dass wir schnell ausziehen. 9 Monate haben wir da gelebt, alle zusammen, dann sind wir umgezogen in eine 2-Zimmer-Wohnung in Wiesbaden. Nach fünf Jahren kam meine Mutter mit meinen Geschwistern, dann mussten wir uns eine 4-Zimmer-Wohnung suchen. Wir wurden hier unterstützt von Kalle-Albert. Die Häuser waren von der Firma, so wie Sozialwohnungen, aber von der Firma. So war das“.
Konstantin S.
Der lange Weg
„Meine Heimat, ich suche Dich wie ein Verdammter. Wenn ich bei Dir in der Fremde bin, bin ich Grieche. Wenn ich bei Dir bin, bin ich Fremder.“
Auszug eines Liedtextes des griechischen Musikers Stelios Kazantzidis
Es ist der Zwiespalt, die Zerrissenheit, zwischen dem „Hiersein“ (anfangs in der Fremde) und die Erinnerung an die frühe Heimat, denn die je länger der Aufenthalt in Deutschland andauerte, umso mehr wurden die griechischen Arbeitsmigrant*innen, also die ersten “Gastarbeiter“, selber zu „Fremden“ in Griechenland.
„Wir wurden als Deutsch-Griechen“ oder „Deutschländer“ – Germanolos“ verhöhnt, sie hörten es an unserer Sprache, an unserem Verhalten“, dass „wir nicht mehr dazugehörten“.
Dimitrios P.
Heimat steht aber auch für einen kontinuierlichen Prozess der Annäherung – einen Prozess des Kennenlernens in eine neue „Kultur“, Identität und Sprache des Aufnahmelandes. Dieser beständige Prozess umfasst ein sich entwickelndes Zugehörigkeitsgefühl (zur eigenen und zur neuen ‚Kultur’), eine Selbstfindung und -reflexion, aber auch Identitätskrisen samt Selbstanalysen – also eine Gesamtheit vieler sozialer Komponenten.
Die griechisch-orthodoxe Gemeinde in Wiesbaden, griechische Vereine oder Vereins-ähnliche Strukturen und kooperierende Gruppierungen gaben den neu zuwandernden Menschen sozialen Rückhalt, Orientierung und Identität sowie eine soziale Verstetigung im „Gastland“. Die griechisch-orthodoxe Kirche der Griechen in Deutschland besitzt einen hohen Stellenwert für die Griechen in der Diaspora.
Entwicklung bis jetzt
Viele Menschen aus verschiedenen Ländern halten sich dauerhaft in Deutschland auf – so leben mittlerweile Bürgerinnen und Bürger aus fast 170 Nationen in der hessischen Landeshauptstadt.
Von insgesamt 291.109 Wiesbadener*innen besitzen 113.595 einen Migrationshintergrund – was 39% der Bevölkerung ausmacht.
2.917 Wiesbadener*innen von insgesamt 3.586 Personen (mit griechischem Migrationshintergrund) besitzen noch eine griechische Staatsangehörigkeit.
Laut Schätzung leben circa 4.000 griechisch stämmige Personen in Wiesbaden und Umgebung, also auch Kinder und Kindeskinder, die schon lange eingebürgert sind.
„Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt.“
Die Ausstellung versucht, die Themenkomplexe Migration und Integration durch persönliche Geschichten verstehbar, nachvollziehbar werden zu lassen. Migration erhält ein Gesicht und der Blick auf das „Fremde“ verliert das Beunruhigende:
„Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt. Wenn man die Möglichkeit nicht hat, sich kennenzulernen, wird man immer fremd bleiben und es wird keine Integration geben.“
Christina K., ehemalige Produktionsmitarbeiterin („Gastarbeiterin“) des Werkes Kalle-Albert der Hoechst AG, die dann nach Jahren des Arbeitens in der chemischen Fabrik, sich bei der Stadt bewarb und als Küchenhilfskraft bis zur Rente als städtische Mitarbeiterin arbeitete.