Interview mit dem politischen Berater, Analysten und freien Journalisten, Christos Mantzios

 

Wir lebten in einer Art Parallelgesellschaft

Der Wiesbadener Christos Mantzios ist ein Kind der 2. Generation ehemaliger griechischer Gastarbeiter. Seine Eltern kamen aus Griechenland, aus der Region Epirus, in den 60ern, um in Deutschland Geld zu verdienen. Ihr Plan war, spätestens nach fünf Jahren wieder nach Griechenland, in die geliebte Heimat, zurückzukehren.

Laut Mantzios geschah so von Seiten der Elterngeneration die Integration nur sehr eingeschränkt. Deutschland wurde nicht als neue Heimat angesehen, da die 1. Generation sich nur kurzfristig in Deutschland aufhalten und sich nicht langfristig niederlassen wollte, da der Wegzug immer im Hinterkopf präsent war. Als dann die Familie gegründet wurde, verlagerte sich dieser Lebensplan und so wurden aus den anfangs fünf Jahren über 50 Jahre in der Fremde. Seine Eltern sind aus der Diaspora nie nach Griechenland zurückgekehrt.

Interessant ist, dass sich die Kinder der griechischen Gastarbeiter der 1. Generation sehr gut integriert haben. So gut, dass über 80% dieser Kinder das Abitur machten und davon fast genauso viele ein Studium in Griechenland und Deutschland abschlossen.

Bildung hatte in der griechischen Kultur einen sehr hohen Stellenwert, so Mantzios, man wollte nicht nur das Beste für seine Nachkommen, sondern man versuchte auch, die Vergangenheit (da viele aus freundlichen Gegenden kamen und oft über ein sehr geringes Einkommen verfügten) so positiv zu verändern, dass die Kinder im Wohlstand leben sollten.

Christos Mantzios ist ein Musterbeispiel der migrierten Folge-Generation. Nach der zweitsprachigen, griechisch-deutschen Grundschule in Wiesbaden-Biebrich ging er auf das Gymnasium und das Lyzeum und absolvierte erfolgreich sein Abitur.

Da er schon in der Schule und in der Freizeit als Klassen- und Schulsprecher und Interessenvertreter für seine Mitschüler aktiv war, merkte er, dass sein Herz auch für Politik und die gesellschaftlichen Zusammenhänge schlug. Folgerichtig begann er mit dem Studium der Politikwissenschaften, Jura und Soziologie in Mainz und engagierte sich in der Politik. Er ist der Mitbegründer des Beratungsnetzwerkes chrisma und betreut unter anderem Politiker, Parteien, Entscheidungsträger, Organisationen und Wohlfahrtsverbände zu den Themen: Politische Entscheidungsprozesse, Public Affairs/Lobbying, IT, M&A Strategien und Pläne, Strategisches Management von Entscheidungsprozessen, Kommunikative Sondersituationen, Change- und Transformationsprozesse sowie Regulierungsfragen.

Mantzios besitzt die deutsche und die griechische Staatsangehörigkeit.

Der Schüler Christos Mantzios in der griechischen Grundschule, Goetheschule Wiesbaden-Biebrich, 3. Klasse im Jahr 1975

Der Schüler Christos Mantzios in der griechischen Grundschule, Goetheschule Wiesbaden-Biebrich, 3. Klasse im Jahr 1975

Wie sah das Leben in Deutschland für Dich als Kind griechischer Einwanderer aus?

Ich ging auf die zweisprachigen griechisch-deutschen Schulen in Wiesbaden-Biebrich, also die Goethe- oder die Pestalozzi-Schule. Wie meine Familie, bewegte ich mich anfangs in griechischen Kreisen, in Vereinen und der griechisch-orthodoxen Kirche. Meine Familie lebte allerdings nicht wie die Überwiegende Mehrheit der Griechen in Wiesbaden-Biebrich oder Wiesbaden-Schierstein, damals Hochburgen der griechischen Community, sondern in der Innenstadt. Diese Tatsache bescherte mir die Möglichkeit auch einige deutsche Freunde zu haben, einen deutschen Kindergarten zu besuchen und die Erfahrung auch einer anderen Kultur, nämlich der deutschen, zu machen. Trotzdem muss ich gestehen dass meine Familie damals in einer Art Parallelgesellschaft lebte, mit dem Wunsch nach einer ethno-kulturellen bzw. kulturell-religiösen Homogenität und einer formal freiwilligen Segregation. In den späten 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts lebten, nach meiner Einschätzung, bestimmt so ca. 90% der Wiesbadener Griechen in einer Art Parallelgesellschaft.

Erlebtest Du Dich mit Deiner griechisch gelebten Kultur in der Schulzeit als „anders“?

Nein, ich hatte keinerlei Probleme, obwohl ich griechisch und griechisch-orthodox erzogen wurde. Ich sah allerdings auch nicht typisch griechisch aus. Oft, wenn ich meine Eltern zum Dolmetschen bei Ärzten oder Ämtern begleitete oder auch für griechische Mitschüler (in der Grundschulzeit sprachen einige gebrochen Deutsch) in der Freizeit übersetzte, wurde ich oft von Deutschen gefragt, warum ich als Deutscher denn so gut Griechisch könne. Als ich sie dann aufklärte, waren sie immer ganz erstaunt. Nein, ich fühlte mich nicht anders. Obwohl mich mein griechischer Name immer als anders definieren wird“ bis heute.

Hast Du Diskriminierungen erfahren messen?

Bis zum 12. Lebensjahr hatte ich keine Vorurteile erlebt. Bis ich dann ein erstes Erlebnis mit Ausländerfeindlichkeit und Rassismus machte: ich saß mit meinen griechischen Mitschülern in einem Wiesbadener Bus und wir unterhielten uns auf Griechisch. Plötzlich drehten sich drei männliche deutsche Fahrgäste um, die uns deutlich daraufhin hinwiesen, Deutsch zu sprechen. Ich erwiderte, dass diese Kinder nicht gut Deutsch reden könnten. Wir verständigten wir uns in unserer Sprache einfach weiter und ignorierten sie. Daraufhin wurden wir als Scheiß-Kanaken beschimpft und da spürte ich zum ersten Mal Wut…

In der Regel habe ich aber solche Beschimpfungen und Vorurteile sportlich abgetan. Auch beim Sport und auf dem Sportplatz beim Fußballspielen gab sich manchmal ein Wort das andere und oftmals wurden meine nicht deutsch aussehenden Mitspieler mit ausländerfeindlichen Sprachen beschimpft.

Es gab dann noch in der Studentenzeit während meines Studiums ein weiteres Erlebnis an der Uni. Als ich als Einziger die beste Arbeit zum Thema Moderne politische Theorie schrieb und die Note 1 bekam, wurde ich von einer Kommilitonin beiseite genommen. Unmissverständlich machte sie mir klar, dass sie es nicht nachvollziehen könne, wie ich als Ausländer die beste Arbeit schreiben könne. Meine Antwort wird sie bestimmt ein Leben lang nicht vergessen

Trotz allem kann ich heute mit über 50 Jahren rückblickend sagen, dass ich in meiner beruflichen Laufbahn und im persönlichen Leben wenig Ausläderfeindlichkeit erlebt habe.

Wie war die Reaktion der Eltern, als sie von diesen Benachteiligungen erfuhren?

Ich solle nicht „aufmupfen“, wir seien ja nur „Gäste“ in Deutschland, ich solle ruhig bleiben und bloß nicht negativ auffallen.

Heimat – ein einfaches Wort voller Bedeutung

Der familiäre Alltag in der Diaspora?

Es bestand ein festes Regelwerk der Elterngeneration, an dem es nicht zu rütteln galt. Der soziale Druck war sehr hoch. Wir sollten uns nicht mit deutschen Mädchen einlassen, denn es könnte ja passieren, dass wir durch diese Beziehungen eventuell in Deutschland blieben, das war ja nicht gewollt. Es hieß: wenn mein Kind einen „Ausländer“ oder eine „Ausländerin“ heiratet, kehrt es nicht nach Griechenland zurück. Auch erste Freundschaften zu Griechinnen waren eigentlich unmöglich für uns männliche Teenager. Unsere Eltern erwarteten, dass wir diese möglichst aus unserem Dorf heiraten. Ansonsten galt, die erste griechische Freundin musste auch geheiratet werden oder vorab sollte wenigstens eine Verlobung erfolgen.

Was bedeutet „Heimat“ für Dich? Wie sieht die „Heimat“ in Deutschland aus?

Heimat ist ein Gefühl, das ich mit Worten nicht exakt beschreiben kann. Heimat – ein einfaches Wort, doch voller Bedeutung. Für mich bedeutet Heimat, dort wo mein Herz ist. Dort wo mich die Menschen verstehen, wo ich mich nicht verstellen muss, wo Leute sind, die ich mag und die mich mögen, da bin ich daheim. Ich fühle mich zuhause, wenn ich ein soziales Netzwerk habe und Freunde, die fast schon zur Familie gehören.

„Ich verstehe mich als Kosmopolit“

Zusammengenommen verstehe ich mich allerdings als Kosmopolit: ich spreche mehrere Sprachen, habe zwei Kulturen in mir und fühle mich heimisch auch mit Menschen anderer Nationalität. Allerdings bricht in bestimmten Situationen das Griechische wieder aus mir heraus, wenn wir z.B. essen gehen, werden beispielsweise alle eingeladen, da kommt die griechische Gastfreundlichkeit wieder deutlich zum Vorschein. Oder manchmal spontan zu agieren und nicht alles planen und absprechen – das ist auch typisch Griechisch. Auch im politischen Denken, wo oft der Faktor Mensch nicht mehr zählt, sondern die Zahlen, da werde ich doch etwas emotional und stelle den Menschen in den Vordergrund.

Wo siehst Du aktuell Deine Heimat? Ist Deutschland zur „Heimat“ geworden?

Als Kind war Griechenland meine Heimat. Nun, nach den vielen Jahren in Deutschland, habe ich zwei Heimatländer: Griechenland und Deutschland, wobei genau genommen Wiesbaden meine Heimat ist. Ja, Wiesbaden ist meine Heimat. Im Gegensatz zu meinen Eltern die noch leben und nicht nach Griechenland zurückgekehrt sind – für beide ist und bleibt Griechenland die Heimat.

Gibt es so etwas wie Fremdsein oder ein Gefühl des Anders-Sein?

Von mir aus nicht, ich fühle mich nicht fremd. Aber, wie bereits schon erwähnt, mein Name ist ja immer noch griechisch. Damit bin ich täglich konfrontiert, dennoch fühle ich mich nicht „ausländisch“, obwohl der Name meine Herkunft belegt.

Gibt es kulturelle Identität? Fühlst Du Dich einer bestimmten Nationalität zugehörig?

Ich glaube, dass die Frage nach einer kulturellen Identität eine äusserst persönliche Angelegenheit ist. Aus meiner Sicht gibt die kulturelle Identität vielen Menschen ein Zuhause. Sie ist eine Zusammenstellung an Merkmalen und Ideen, mit denen sich Menschen und bestimmte Gruppen selbst identifizieren. Sie kann regional, national oder transnational gebildet werden.

Letztlich dient die kulturelle Identität einer gewissen Welt- und Sozialorientierung. Ich bin Grieche und deutscher Staatsbürger. Mittlerweile höre ich aber Kommentare von Deutschen, die mir sagen, dass ich deutscher bin als ein Deutscher, weil ich noch pünktlicher bin als sie und sehr diszipliniert.

Hat sich die griechische Kultur durch das Leben in Deutschland verändert?

Unsere Riten und Festtage wie zum Beispiel Nikolaus, der erst am 31.12. ist oder das Weihnachtsfest, das am 25. und 26. in Griechenland gefeiert wird, vermischen sich mit den deutschen Festterminen. Das heißt dass unser Kind den Nikolaus 2x feiert und das Weihnachtsfest sogar drei Tage erlebt. Unser Kind haben wir zweisprachig erzogen, hierbei ist aber das Griechische nur noch die Zweitsprache, Deutsch steht an erster Stelle.

Rückblickend auf den Migrationsprozess der Eltern, was war positiv, wo gab es Schwierigkeiten?

Positiv waren der Kontakt und das Zusammenleben mit anderen deutschen Familien. Negativ war, dass es keine Verpflichtung gab für die 1. Generation, die deutsche Sprache zu lernen. Außerdem war es nicht förderlich für die Integration, dass meine Eltern jahrelang mit der Vorstellung lebten, wieder in ihre Heimat zurückkehren. So wurden oft falsche Investitionen getätigt, es wurde Kapital nach Griechenland transferiert, anstatt hier zu investieren.

Was würdest Du heute aus Deiner Erfahrung heraus den Deutschlernenden und Arbeitgebern und Behördenmitarbeitern, die mit Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, empfehlen, damit eine Integration gelingt?

Allen Einwandern würde ich folgenden Ratschlag geben: Vergisst die Heimat, denkt nicht an die Rückkehr, akzeptiert, dass eurer gesellschaftlicher Platz nun in Deutschland ist bzw. wird. Denkt nicht zurück und nicht daran, was euch fehlt. Schaut auf die Möglichkeiten, die es gibt und zu nutzen sind. Die Sprache des Aufnahmelandes lernen, damit sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und im Beruf erhöhen. Über die Sprache wird man autark, selbstbewusst. An die Arbeitgeber und die Behördenmitarbeiter würde ich folgenden Tipp geben: Neben möglichst passgenauen Maßnahmen für den Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Sprachkenntnissen ist die soziale Teilhabe ein Kernbedürfnis der Einwanderer. Sie sollte stärker als bisher im Fokus von Integrationskonzepten stehen.

Auf der Skala von 1 (schlecht) bis 10 (gelungen) – wie fühlst Du Dich integriert?

10!

Und dies ohne Assimilation und ohne vollkommene Aufgabe der eigenen Kultur!

Vielen Dank für das Gespräch!